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Wer bezahlt den „wahren Preis“?

Die Zukunft von True Cost Accounting für Lebensmittel, Landwirtschaft und Finanzen

Am 4. Dezember 2018 fand in Waddixveen (Niederlande) eine hochkarätig besetzte Debatte über die Zukunftsperspektiven für eine Vollkostenrechnung in den Bereichen Lebensmittelindustrie, Landwirtschaft und Finanzen statt. Neben Carola Schouten, niederländische Ministerin für Landwirtschaft, Natur und Lebensmittelqualität, und Peter Bakker, Präsident des Weltwirtschaftsrats für Nachhaltige Entwicklung, nahmen auch Felix Prinz zu Löwenstein, Vorstandvorsitzender des Bundes Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW), sowie Königin Máxima an der Diskussionsrunde teil. Als studierte Wirtschaftswissenschaftlerin und ehemalige Bankerin bekräftigte Máxima ein besonderes Interesse an der Debatte, die auch dank zahlreicher anderer Redner aus den Bereichen Finanzwelt, Wirtschaft und Umwelt mit Leben gefüllt wurde. Kernthema der Debatte war, wie „wahre Preise“ eine Trendwende in der Lebensmittelproduktion und ganz allgemein in der Wirtschaft einleiten können.

10 Schlussfolgerungen aus der Debatte:

  1. Die Implementierung einer Vollkostenrechnung sorgt dafür, dass gesunde und nachhaltig erzeugte Lebensmittel günstiger werden, wohingegen ungesunde und nicht-nachhaltig erzeugte Lebensmittel teurer werden.
  2. Die versteckten Kosten müssen nicht vom Konsumenten durch höhere Konsumentenpreise eingefordert werden, sondern bereits zu Beginn der Wertschöpfungskette berechnet werden. Das sorgt für eine schnelle Vernachhaltigung und für eine Reduzierung der Kosten.
  3. Es ist Aufgabe der Politik, dafür zu sorgen, dass schädliche Einträge mehr kosten. Ganz nach dem allgemein gültigen Prinzip „der Verursacher zahlt“.
  4. Die Politik muss Steuervorteile und Fördermittel neu verteilen, sodass sie nicht (wie aktuell der Fall) an Verschmutzer wie Shell ausgezahlt werden, sondern bei nachhaltig wirtschaftenden Unternehmen landen.
  5. Eine Vernachhaltigung des Systems führt zu einem gesünderen Essverhalten bei den Konsumenten – bei gleichem Ausgabenmuster. Das zeigt sich in einem höheren Anteil pflanzenbasierter und frischer Lebensmittel bei gleichzeitig geringerem Verzehr von Fleisch und verarbeiteten Lebensmitteln, wie Untersuchungen aus Dänemark belegen.
  6. Laut einer aktuellen Studie (The Lancet, 2019) ist der Übergang zu einer pflanzenbasierten Ernährungsweise die Chance, Klimaschutz zu betreiben und die weltweite Obesitas-Epidemie zu stoppen. Das knüpft perfekt an Punkt 5 an.
  7. Die Kosten schlechter Ernährung für die Gesundheit müssen in die Vollkostenrechnung mit einbezogen werden. Die Kosten nur von Obesitas betragen weltweit 3 Billionen US-Dollar pro Jahr, mehr als der Gesamtschaden auf Klima und Umwelt durch die weltweite Lebensmittelproduktion.
  8. Bauern in Entwicklungsländern dürfen nicht abhängig von teuren Agrochemiekalien gemacht werden. Stattdessen sollte Bodenfruchtbarkeit als Wert etabliert werden; ebenso sollte Arbeitskraft dem Einsatz von Kapital vorgezogen werden. So gibt man ihnen ein nachhaltiges Geschäftsmodell an die Hand und sorgt für Wohlstand auf breiterer Ebene.
  9. Die Vernachhaltigung der Lebensmittelproduktion sorgt für mehr sozialen Zusammenhalt in ärmeren Gebieten, zu einer Wiederbelebung ländlicher Räume und einem gesünderen politischen Klima. Das machen Projekte in Spanien, den Niederlanden und anderswo deutlich.
  10. Zum Hinauszögern bleibt uns keine Zeit. Mit einer „Koalition der Willigen“ müssen wir nun die Arbeit aufnehmen. Die größten Gefahren für die Zukunft der Menschheit sind der Klimawandel, die Gesundheitskrise und der Verlust fruchtbarer Böden. Darauf können wir uns mit „True Cost Accounting“ fokussieren.

Debattenbericht: Die zentrale Frage

Die zentrale Frage der Eosta-Debatte rund um True Cost Accounting und die Vernachhaltigung der Lebensmittelproduktion bringt Königin Máxima auf den Punkt: Wie kreiert man ein nachhaltiges Geschäftsszenario zu „wahren Preisen“, wobei die Extrakosten nicht auf die Erzeuger und nicht auf die Verbraucher abgewälzt werden?

Menschen aus Entwicklungsländern geben derzeit zwei Drittel ihres Einkommens für Lebensmittel aus – in westlichen Ländern sind es gerade einmal 10 Prozent. Wird der Preis erhöht, kann das zu ernsthaften politischen Unruhen führen. „Dazu müssen wir nur nach Paris schauen“, ergänzt Felix Prinz zu Löwenstein, selbst Bio-Landwirt. „Als der Literpreis für Diesel 7 Cent teurer wurde, sind Krawalle ausgebrochen.“ Königin Máxima nickt zustimmend: „Genau das meine ich“.

Bericht zur Debatte im Volkskrant

Im Bericht zur Debatte, der in der niederländischen überregionalen Tageszeitung De Volkskrant erschien (siehe hier), konzentriert sich Journalist Pieter Hotse Smit genau auf Fragen dieser Art. Die Politik und auch der Finanzsektor sind – in ihrer Steuerungsrolle – in der Verantwortung, darüber ist man sich einig. Aber aus der Diskussion geht auch hervor, dass sie dieser Verantwortung (noch) nicht gerecht werden können oder wollen. Die ebenfalls bei der Debatte anwesenden Konzernspitzen von ABN Amro und ASR geben an, dass ihre Banken darum bemüht sind, Nachhaltigkeitskriterien und Vollkostenberechnungen zukünftig in Finanzierungsbeschlüsse mit einzubeziehen, hier aber noch in den Kinderschuhen stecken. Klaas Knot, Direktor der Nederlandse Bank, spricht sich für eine stärkere Rolle der Politik aus. Dies weist jedoch die ebenfalls anwesende Ministerin Schouten direkt von sich. Stattdessen verweist sie an die Verbraucher und gibt die Ohnmacht im Europäischen Verband zu bedenken. Das jedoch stößt u.a. bei Unternehmer Volkert Engelsman, Aktivistin Marjan Minnesma und Professor Jaap Seidell auf Unverständnis: „Wir können nicht die Hände in den Schoß legen, wir sitzen in einem sinkenden Schiff!“ Mehr zu den Reaktionen lesen Sie im Volkskrant-Artikel (auf Niederländisch):

https://www.volkskrant.nl/kijkverder/2018/voedselzaak/artikelen/maxima-n....

Blaupause für eine erfolgreiche Trendwende

Was aus dem Volkskrant-Artikel weniger deutlich hervorgeht, sind die verschiedenen konkreten Lösungsansätze und Ideen, die während der Diskussion angesprochen werden. Zusammengenommen ergeben diese eine hoffnungsvolle Blaupause für eine Trendwende in unserem Wirtschaftssystem, die auch Kleinbauern in Entwicklungsländern und den Verbrauchern zugutekommt. Richtig angewendetes True Cost Accounting kann die externen Kosten reduzieren und verbreitet für Wohlstand sowie öffentliche Gesundheit sorgen. Das bedeutet einen finanziellen Vorteil von hunderten Milliarden Euro. Darüber hinaus kehren Inspiration und Sinngebung zurück in die Wirtschaftswelt, was große politische Effekte haben kann, wie aus der Praxis hervorgeht.

Wird Essen doppelt so teuer? Nein!

Aus Berechnungen der FAO, der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, geht hervor, dass die versteckten Kosten unserer Lebensmittel ungefähr so hoch sind wie ihr Marktwert. Das bedeutet also, dass unsere Lebensmittel durchschnittlich doppelt so teuer sein müssten, wenn ihre derzeitigen externalisierten Kosten mit einberechnet werden würden. Das ist aber eine Sackgasse: denn hier werden die verborgenen Kosten nur an den Konsumenten weiterberechnet, ohne wirklich etwas im System zu verändern. Genau das wolle man nicht, betont Volkert Engelsman. Je länger man wartet mit einer Vernachhaltigung, umso höher werden die Kosten.

Es ist bei weitem günstiger, Verschmutzungen und Schäden direkt zu Beginn der Wertschöpfung vorzubeugen. „Denn was wir wollen, ist eine Vernachhaltigung des gesamten Systems“, so Engelsman weiter. „Dann könnte sich der ‚wahre Preis‘ unserer Lebensmittel rein theoretisch sogar verringern.“

Schädliche Einträge dürfen sich nicht mehr lohnen

„Nicht der Preis unserer Lebensmittel, sondern die Kosten für schädliche Einträge müssen sich erhöhen“, sagt Felix Prinz von Löwenstein. Dafür könne die Politik sorgen. So hat Schweden von 1984 bis 2009 eine Steuer auf Kunstdünger erhoben, weil Kunstdünger negative Auswirkungen auf die Bodenqualität und die Umwelt hat. Diese Düngesteuer sorgte dafür, dass deutlich weniger Kunstdünger auf landwirtschaftlichen Flächen ausgebracht wurde bzw. durch organischen Dünger wie Kompost ersetzt wurde. Das Geld, das durch eine Besteuerung dieser Art in die Staatskassen fließt, kann gezielt dafür eingesetzt werden, um eine grüne und nachhaltige Entwicklung im Nahrungsmittelsektor zu stimulieren. (Schweden hat sich 2009 unter Druck der weltweiten Wirtschaftskrise von der Düngesteuer verabschiedet, nun fordern viele Stimmen eine Wiedereinführung).

Politik muss die richtigen wirtschaftlichen Anreize schaffen

Eindringlich bittet Volkert Engelsman Ministerin Schouten darum, die Verteilung von Fördermitteln und Steuervorteilen neu zu überdenken. Denn diese flössen nun in fossile Brennstoffe (Shell konnte 2018 wieder einen Rekordumsatz von 23 Milliarden Euro verbuchen) und umweltverschmutzende Technologien. Damit jedoch fördert die Politik das Problem und nicht die Lösung.

Jaap Seidell, Professor für Gesundheit und Ernährung an der Freien Universität Amsterdam, schließt sich an: „Wenn die Politik eine gesunde Ernährung stimulieren würde, indem gesundheitsförderliche Nahrungsmittel von der Steuer befreit und gesundheitsschädliche Nahrungsmittel steuerlich zusätzlich belastet werden würden, wie wir es heutzutage schon mit Tabak tun, dann könnte sich die Regierung diese Mehrausgaben schnell wieder zurückverdienen. Aber so, wie es jetzt läuft, begünstigen wir eine ungesunde Ernährungsweise statt einer gesunden Diät.“

Beifall erhalten Seidell, Von Löwenstein und Engelsman auch vom Direktor der niederländischen Zentralbank, Klaas Knot. Er stellt fest, dass im derzeitigen Wirtschaftssystem keine Anreize bestehen, um in grüne und klimafreundliche Projekte zu investieren. Knot appelliert an die Politik, speziell im Bereich Klima endlich einzugreifen. Die Öl- und Gasindustrie hat aktuell nämlich noch Milliarden an sogenannten „verlorenen Vermögenswerten“ in der Vermögensübersicht stehen – Öl und Gas, das nicht mal ansatzweise gefördert werden darf, wenn wir unter dem katastrophalen 2-Grad-Ziel der Erderwärmung bleiben wollen.

Wahre Preise: Konsumenten profitieren bei Gesundheit und Wohlstand

Dass eine verordnete Vernachhaltigung (bzw. eine Internalisierung der verborgenen Kosten) möglich ist, ohne dass die Lebenshaltungskosten steigen, hat sich in Dänemark gezeigt. 2007 wurde in Kopenhagen beschlossen, dass die gesamte Lebensmittelversorgung des öffentlichen Sektors bis 2015 auf Bio umgestellt werden soll. Das wurde erreicht – bei gleichbleibenden Kosten. Der Effekt der Umstellung: mehr Menschen entschieden sich für frische, pflanzliche Lebensmittel, seltener für Fleisch. Seidell: „Verändert man den Preis der Externalitäten, verändert man auch die Ernährungsweise.“ Und das bringt nicht nur Vorteile für Umwelt, Tierwohl und Klima, sondern führt auch zu einem gesünderen Lebensstil.

Eine Ernährungswende kann die Gesundheit und das Klima retten

Laut einer aktuellen wissenschaftlichen Studie in The Lancet, die weltweite Aufmerksamkeit erregte, ist eine Umstellung auf mehr Nahrungsmittel pflanzlichen Ursprungs die Lösung, um Millionen Todesfälle als Folge von Zivilisationskrankheiten zu verhindern und die Klimaerwärmung zu stoppen. Die kürzlich in den Niederlanden stattgefundene Erhöhung der Mehrwertsteuer auf frisches Obst und Gemüse – Lebensmittel, die sowohl in Sachen Gesundheit als auch Nachhaltigkeit den Großteil unserer Ernährung ausmachen sollten, wie sich die Wissenschaft einig ist – sendet, in diesem Lichte betrachtet, ein schwer nachvollziehbares Signal. Mehr zur wissenschaftlichen Studie in The Lancet lesen Sie hier (in Englisch): https://www.theguardian.com/environment/2019/jan/16/new-plant-focused-di....

Millionen verdienen an gesunder Lebensweise

In der Debatte weist Professor Jaap Seidell darauf hin, dass die Kosten, die eine minderwertige industriell verfertigte Ernährung verursacht, höher sind, als all die Kosten zusammen, die die Produktion von Nahrungsmitteln weltweit verursacht. „Es gibt eine Epidemie von sogenannten Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, die durch die aktuelle Ernährungs- und Lebensweise verursacht werden und vermieden werden könnten. Allein die Kosten von Obesitas belaufen sich nun schon auf 3000 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Diese Kosten müssen mitgerechnet werden, wenn wir darüber sprechen, was unser Essen wirklich kostet. Allerdings passiert das aktuell überhaupt nicht.” Zum Vergleich: Die gesamten versteckten Umweltkosten unserer Nahrungsmittelproduktion belaufen sich laut eines FAO-Berichts aus dem Jahr 2014 auf ungefähr 2100 Milliarden US-Dollar im Jahr.

Schlechte Nahrungsmittel: Die Armen sind die Verlierer

Laut Seidell werden gerade die Einkommensschwachen Opfer schlechter Ernährung, denn ausgerechnet die minderwertigen Nahrungsmittel (Softdrinks, Fastfood) sind momentan für den kleinsten Preis zu haben – der Externalisierung von Kosten sei Dank. Seidell: „In armen Ländern wie Mexiko den Zugang zu schlechten Nahrungsmitteln über einen günstigen Preis besonders attraktiv zu machen, ist unverantwortlich und unbezahlbar. In Mexiko ist Obesitas inzwischen ein noch größeres Problem als in den Vereinigten Staaten. Da geht es nicht nur um die Kosten für die ärztliche Behandlung und Pflege, sondern auch um den Verlust von Arbeitskraft und Produktivität.“

Seidell ergänzt: „Das Gleiche gilt für die Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft. In Südafrika oder Indien sorgt das Hantieren mit Pestiziden unter den Feldarbeitern für viele gesundheitliche Probleme. Hat das beispielsweise Blindheit oder Krebs zur Folge, ist das ebenfalls ein enormer Kostenfaktor. Deshalb ist es so wichtig, Gesundheit – sowohl auf Erzeugerebene als auch auf Konsumentenebene – mitzurechnen in der Vollkostenberechnung. Bisher stehen ja vor allem Umwelt- und Energieaspekte im Vordergrund.“

Ein Geschäftsmodell für Kleinbauern in Entwicklungsländern

Königin Máxima erkundigte sich nach einem Geschäftsmodell für Kleinbauern in Entwicklungsländern, dass all diese Aspekte berücksichtigt. Denn in der Debatte wurde deutlich gemacht, dass die industrielle Produktion von Palmöl und Soja diesbezüglich ein desaströses Modell ist, da es Abhängigkeiten erzeugt, natürliche Ressourcen vernichtet und ein nachhaltiges Wachstum unmöglich macht.

Jaap Seidell: „Die Massenproduktion von Soja und Palmöl spült den Firmen das meiste Geld in die Kassen. Deshalb ist Palmöl und Soja heute in jedem verarbeiteten Lebensmittel, das wir im Supermarkt kaufen können, enthalten. Für die Umwelt und das soziale Miteinander in Entwicklungsländern ist es aber unglaublich schlecht. Außerdem ist es schlecht für unsere Gesundheit, da Palmöl und Soja in minderwertigen Lebensmitteln stecken. Wenn der Kostenpunkt Gesundheit mitgerechnet wird im True Cost Accounting, wird es finanziell gesehen sofort attraktiver, gesunde Lebensmittel herzustellen.“

Vermeintlich gesunde Sojaprodukte führen zu Landraub und Mord

Felix Prinz zu Löwenstein fügt hinzu, dass die großen Monokulturen in Entwicklungsländern allein gewinnbringend für „ein paar wenige Glückliche“ sind. Arme Kleinbauern hingegen verlieren dadurch wortwörtlich den Boden unter den Füßen. Die Bodenfruchtbarkeit wird nachhaltig zerstört, das Lebensumfeld angegriffen. Sogenannte nachhaltige Soja-Anbauprojekte, an denen z.B. die Niederlande in Brasilien mitwirken, führen im Amazonasgebiet zu Abholzung, Landraub und Mord, wie aus einer aktuellen Reportage hervorgeht (in Niederländisch): https://www.groene.nl/artikel/duurzaamheid-is-slechts-een-verhaaltje.

Arme Bauern nicht abhängig machen von teurer Agrochemie

Es ist ein Denkfehler, so Felix Prinz zu Löwenstein, armen Kleinbauern in Entwicklungsländern helfen zu wollen, indem man die Agrochemiekonzerne im Westen subventioniert. Das Resultat ist nämlich, dass man arme Menschen abhängig macht von teurer Agrochemie, Saatgut und Anbautechniken, die entwickelt wurden, um mit so viel Kapitaleinsatz wie möglich und so wenig Handarbeit wie nötig Landbau zu betreiben. Für Kleinbauern hingegen ist gerade Arbeitskraft billig und in großem Maße vorhanden, im Gegensatz zu Kapital. In Indien haben aus diesem Grund schon drei Bundesstaaten beschlossen, auf 100% biologische Landwirtschaft umzustellen: Sikkim, Mizoram und Kerala.

Lösung: armen Bauern helfen, Kapital aus gesunden Böden zu schlagen

Volkert Engelsman, Geschäftsführer von Eosta, bringt einen Lösungsvorschlag zur Sprache, den er selbst seit der Gründung seines Unternehmens Eosta im Jahr 1990 verfolgt: „Wir sollten armen Kleinbauern dabei helfen, gesunde Böden als Wert anzuerkennen, den es mit nachhaltigen Anbautechniken wie Kompostierung zu erhalten und zu steigern gilt. Das sorgt für geringere externe Kosten und – dank Zugang zum stetig wachsenden Biomarkt im Westen – für ein Extra-Einkommen neben dem Verkauf auf dem lokalen Markt.

Eostas Projekte mit Bauern in Kenia, Costa Rica und anderswo auf der Welt haben bewiesen, dass dieser Ansatz zur Entwicklung und zum Wohlstand der gesamten Gemeinschaft beitragen kann. Beispielsweise das Anbauprojekt für Bio-Ingwer und -Kurkuma von Aldo Ramirez in Peru. Ramirez stammt aus ärmlichen Verhältnissen, verfügt aber über großen Unternehmergeist und konnte durch die Zusammenarbeit mit dem Handelshaus Eosta den Wohlstand in seiner Heimat nachhaltig auf ein höheres Niveau bringen. Auf der Internetseite www.natureandmore.de sind neben Aldo Ramirez auch noch zahllose andere Musterbeispiele zu finden.

Rückkehr von Inspiration, Identität und Sinn

Ein wichtiger Effekt der Vernachhaltigung ist die Rückkehr von Inspiration, Identität und Sinn in der Wirtschaft. Volkert Engelsman von Eosta: „Auf eine 20 Hektar große Sojabohnen-Monokultur in deinem Dorf kannst du nicht stolz sein. Auf einen gesunden, nachhaltig wirtschaftenden Landbaubetrieb, der zur Belebung der ganzen Gemeinschaft vor Ort beiträgt, kannst du hingegen sehr wohl stolz sein.“

Jaap Seidell erzählt, dass er an verschiedenen Projekten in einkommensschwachen Vierteln niederländischer Städte mitwirkt. Dabei geht es nicht nur darum, dass die Menschen gesünder essen und öfter zu Lebensmitteln pflanzlichen Ursprungs greifen, sondern auch darum, den sozialen Zusammenhalt sowie die Verbundenheit zum Viertel zu stärken.

Großflächige Belebung ländlicher Räume

Willem Ferwerda, der mit der NGO Commonland überall auf der Welt großflächige Projekte zur Verbesserung der Bodenqualität durchführt, gibt ein treffendes Beispiel: In der staubtrockenen Hochebene Altiplano im Süden Spaniens hat Commonland auf 630.000 Hektar ein Projekt durchgeführt, um den stark verarmten Boden zu regenerieren und die Region wieder zu neuer Blüte zu bringen. Dabei wurden hunderte lokale Unternehmer und Bauern mit ins Boot geholt. Ferwerda: „Das Projekt hat einen gewaltigen sozialen Effekt. Die ländlichen Räume bluten überall in Spanien aus, aber in dieser Region sind die Leute plötzlich wieder Stolz auf ihre Heimat und kehren zurück.“

Ein wirksames Mittel gegen den Rechtsruck?

Das Gefühl von Verbundenheit, das mit einer Vernachhaltigung einhergeht, hat sogar einen wichtigen politischen Effekt. Zu sehen war das bei den Kommunalwahlen in Andalusien, die am 2. Dezember 2018 stattfanden. „Die neue rechte Partei VOX kam unerwartet auf 10% der Stimmen. Im Altiplano wählte sie hingegen beinahe niemand. Die Wiederbelebung ländlicher Räume kann also auch eine große politische Strahlkraft haben.“

Eine nachhaltige Wirtschaftswende kann somit zu einem probaten Mittel werden, den weltweiten Rechtsruck, der auf das Schüren von Zukunftsangst und Misstrauen basiert, einzudämmen. Das Gefühl von Entwurzelung und Misstrauen in der Gesellschaft, dass sich überall auf der Welt in den politischen Machtverhältnissen widerspiegelt, hat seine Wurzeln im systematischen Externalisieren von Kosten.

Zum Zögern bleibt uns keine Zeit

Ministerin Schouten betont, dass die Gesetzgebung von EU und WTO ein hartes Eingreifen des Staates verhindern. Marjan Minnesma, Peter Blom von der Triodos Bank und andere Redner beharren jedoch darauf, dass keine Zeit mehr ist, um noch länger zu zögern.

Marjan Minnesma: „Wir müssen in 50 Jahren bei Null Emissionen ankommen, wenn wir eine Katastrophe vermeiden wollen. Die Idee, dass sich die Wirtschaft selbst reguliert, probieren wir schon seit einem halben Jahrhundert aus – und sind damit gescheitert. Jetzt ist es an der Zeit für echte gesetzliche Maßnahmen.“

Jaap Seidell: „Die Rabobank hat berechnet, dass wir die Gesundheitskosten im Jahr 2030 nicht mehr bezahlen können, wenn wir so weiterleben wie bisher. Wenn wir nicht mehr für unsere Gesundheit zahlen können, ist auch kein Geld mehr übrig für andere Dinge – wie z.B. den Klimaschutz. Und das ist eine wirklich düstere Zukunftsperspektive.“

Peter Blom von der Triodos Bank: „Wir müssen nicht mehr für ‚Grün‘ werben, wir müssen ‚Braun‘ abstrafen. Harte gesetzliche Regelungen müssen eine Veränderung im Denken herbeiführen.“

When the going gets tough, the tough get going

Volkert Engelsman ruft zu einer „Koalition der Willigen“ und zum Handeln auf – und richtet sich damit an Unternehmen ebenso wie an Banken und NGOs. „Wir müssen uns auf unseren Einflusskreis konzentrieren – auf das, was geht, und nicht auf das, was nicht geht. Veränderung geht immer von einer kleinen Minderheit aus, nie von der großen Masse. Wir haben nur ein Möglichkeitsfenster, und diese Chance sollten wir nutzen.“

„Wer nicht mitmacht, verschließt die Augen vor den Tatsachen“, fasst Engelsman zusammen. „Es geht nicht mehr darum, ob man an Nachhaltigkeit glaubt oder nicht. Jetzt geht es um die RAROC´s der Finanzwelt, die risikoadjustierte Eigenkapitalrendite. Sie legen die Kreditwürdigkeit von Unternehmen und Staaten fest. Sie legen fest, wohin die großen Geldströme fließen und wie unser Ökonomie in Zukunft aussieht.“

„Die großen Risiken sind das Klima, die Bodenfruchtbarkeit und die Gesundheit. Artenvielfalt und soziales Kapital spielen auch eine wichtige Rolle, sind aber viel schwieriger zu beziffern. Setzen wir die Prioritäten im True Cost Accounting darum auf Klima, Boden und Gesundheit. When the going gets tough, the tough get going.“

Ende des Debattenberichts

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